5 Fragen an Prof. Binh Minh Herbst und Christin Marczinzik vom Interactive Design Studio A.MUSE (Halle/Saale), Finalistinnen 2019, Projekt: „Songs of Culture“ – Bilinguale Liederbücher für Kinder mit Augmented Reality App zum Erlernen interkultureller Kompetenz
Songs of Cultures begann als eine bilinguale Liederbuchreihe mit liebevollen Illustrationen für Kinder. Mit Hilfe einer iOS/Android-App werden fantastische Musikwelten und Charaktere durch Augmented Reality aus den Buchseiten zum Leben erweckt. Es unterstützt nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene beim musikalischen Erlernen einer Fremdsprache. Aus dieser Idee ist inzwischen ein innovativer Bildungskosmos gewachsen.
Das A.MUSE – Design Studio startete vor fünf Jahren frisch durch und steckte voller Tatendrang. Um es vorwegzunehmen: Die beiden Multimedia- und Virtual-Reality-Designerinnen Binh Minh Herbst und Christin Marczinzik sind bis heute mit viel Leidenschaft bei ihrer Arbeit. In vielen Projekten verschmelzen sie ihre Expertise, die physische und digitale Welt zu emotionalen und sinnlichen Erlebnissen und begeistern damit nachhaltig. Projekte der „Musen“ wurden mehrfach ausgezeichnet und international ausgestellt.
Wir möchten wissen: Was ist aus „Songs of Culture“ geworden? Was hat es damals für euch bedeutet, auf Anhieb in der Top Ten des Kreativpreises des Landes Sachsen-Anhalt zu landen?
Binh Minh Herbst: Es war ein unglaublicher Aufmerksamkeits-Boost, gerade zu Beginn unserer Gründung und noch mitten in der Entwicklung von Songs of Cultures. In einem so frühen Prototypen-Stadium erfolgreich bei einem Kreativwettbewerb teilzunehmen, war eine enorme Motivation und eine Bestätigung, dass wir mit unserer Idee auf dem richtigen Weg sind. Die Anerkennung aus Sachsen-Anhalt – dem Bundesland, in dem wir studiert, teilweise sogar aufgewachsen sind, und unseren Lebensmittelpunkt haben´– bedeutete uns emotional sehr viel.
Christin Marczinzik: Diese Wertschätzung hat uns dazu inspiriert, uns 2019 bei den Kultur- und Kreativpiloten zu bewerben – und siehe da, es hat funktioniert! Die Nominierung beim BESTFORM war für uns eine der ersten Meilensteine auf unserem Weg, national und international wahrgenommen zu werden.
Wie ist es mit „Songs of Cultures“ weitergegangen?
Christin Marczinzik: Songs of Cultures hat seit seiner Nominierung beim BESTFORM AWARD viele internationale Anerkennungen erhalten, darunter den Unity for Humanity Imagine Grant, der mit einem Preisgeld von 150.000 US-Dollar eine enorme Weiterentwicklung des Projekts ermöglichte. Dank dieser Unterstützung können wir die App heute kostenlos und gemeinnützig anbieten, um die Liebe zu anderen Kulturen zu entfachen und noch mehr Kindern und Familien das Ankommen in Deutschland zu erleichtern sowie das Miteinander in Kitas und Schulen zu bereichern. Mit enormer Ausdauer und Schaffenskraft waren insgesamt über 60 Menschen an diesem Projekt über fünf Jahre beteiligt – engagierte Musikpädagoginnen wie Ina Friebe, ExpertInnen der „Deutsch Didaktik Digital“-Initiative der Martin-Luther-Universität mit Prof. Matthias Ballod, renommierte Kinderliedermacher aus Sachsen-Anhalt wie Toni Geiling, die Kinder Sing Akademie Halle (Saale) mit Marie-Therese Mehler, Kinder und Eltern aus der Ukraine, Syrien, Vietnam und natürlich ExpertInnen aus dem Multimediabereich: IllustratorInnen, MusikerInnen, DesignerInnen, 3D-Artists, AnimatorInnen, ProgramiererInnen u.s.w. Mit dem Projekt waren wir für den Deutschen Computerspielpreis nominiert, wurden zur UN in New York beim Games for Change Summit eingeladen und haben diesen Herbst 2024 den Leopold Medienpreis Interaktiv gewonnen – eine besondere Anerkennung vom Verband deutscher Musikschulen. Auf dieses pädagogische Qualitätssiegel sind wir besonders stolz.
Binh Minh Herbst: Was als Liederbuch und später als Liederkarten mit einer Augmented Reality-App begann, ist mittlerweile zu einem innovativen Bildungskosmos herangewachsen. Kern ist eine interaktive Web-App, die ein breites Spektrum an Musik für Kinder aus fünf verschiedenen Kulturen – Syrisch, Ukrainisch, Englisch, Vietnamesisch und Deutsch – bietet. Sie ist auf jedem Browser niedrigschwellig und auf jedem Gerät zugänglich Und wer Augmented Reality ausprobieren möchte, kann sich musikalische Welten auch direkt ins Zimmer zaubern. Kinder können gemeinsam Karaoke singen und sich über interaktive Vokabeln mit Fremdsprachen vertraut machen. Dazu gibt es vielseitig begleitende Lernmaterialien wie Handlungsempfehlungen für Eltern und LehrerInnen, Notenblätter, Ausmalbilder mit kindgerechten kulturellen Hintergrundinformationen. Auch Klanggeschichten sind bereits in Planung.
Christin Marczinzik: All‘ das hilft Kindern und Familien in Kitas, Schulen und zu Hause dabei, Weltoffenheit zu entwickeln, positiven Zugang zu neuen Sprachen und Kulturen zu finden und miteinander ins Gespräch zu kommen. Besonders berühren uns die einzelnen Geschichten aus dem Kita-Alltag, die uns zeigen, wie Songs of Cultures das Leben bereichert. Ein Beispiel der Musikpädagogin der Musikkita „Friedrich Wilhelm Zachow“ aus Halle: „Seit kurzem gibt es ein ukrainisches Mädchen bei uns, das bisher kein Deutsch spricht. Wir haben ihre Stimme zum ersten Mal gehört, als sie das ukrainische Regenlied aus Songs of Cultures mitgesungen hat.“
Oder: „Zu unserem Jahresfest 2024 unter dem Motto ,Eine musikalische Weltreise‘ hat ein syrisches Geschwisterpaar das bekannte Lied von Opas Esel in ihrer Muttersprache vorgetragen, während die anderen Kinder den Refrain auf Deutsch mitsingen konnten. Die Mutter, eine ehemalige Musiklehrerin aus Syrien, hat die App genutzt, um das Lied mit ihren Kindern zu Hause zu lernen. Das hat eine Brücke geschlagen – nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch zu den Eltern anderer arabischer Herkunft, die dadurch noch offener für den Dialog mit uns geworden sind.“
Solche Momente beweisen uns immer wieder: Als Kreative schaffen wir nicht nur Anwendungen oder Produkte, sondern Erlebnisse, die positiv und nachhaltig das Leben von Menschen verändern.
Binh Minh Herbst: Zukünftig hoffen wir auf Kooperationen mit größeren Institutionen, die das Projekt weiter tragen können als wir: Wie KIKA, die UN, das International Rescue Committee und ähnliches, um die Reichweite von Songs of Cultures zu erhöhen und somit weltoffenes und tolerantes Denken weiter zu fördern – gerade in Zeiten, in denen rechtsextreme Tendenzen zunehmen. Denn es ist wichtig, bei den Kindern den Samen für Toleranz zu säen und sich als kosmopolitische BürgerIn der Erde zu verstehen. Mit dieser Grundeinstellung können wir für die Generation nach uns ein Puzzleteil zum friedvollen Umgang miteinander beitragen.
Woran arbeitet ihr aktuell?
Christin Marczinzik: Uns treiben aktuell viele spannende Themen um: Für die Grimmwelt Kassel arbeiten wir an einem interaktiven Erlebnisraum innerhalb ihrer Dauerausstellung, um das Kulturerbe der Gebrüder Grimm (insbesondere das Thema Märchen) auf moderne Art zu interpretieren und zu vermitteln. Kinder sollen dort durch kreative und explorative Prozesse eigene Figuren gestalten und in einem projizierten Märchenwald zum Leben erwecken. Um das Projekt mit neuester Technik umzusetzen, unterstützen wir auch auf der Suche nach PartnerInnen, SponsorInnen und Drittmittel.
Binh Minh Herbst: Für die Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt entwickeln wir eine innovative Marketingkampagne mit Augmented Reality – zuletzt für den Elberadweg. Ziel ist es, Menschen spielerisch zu inspirieren und zu ermutigen, die wunderschöne Natur und Kultur Sachsen-Anhalts zu entdecken. Außerdem arbeiten wir an einem sehr persönlichen Drehbuch für einen Animadok mit Hugfilms und einer VR-Experience, die die migrantische Perspektive von vietnamesischen Vertragsarbeitern in der DDR beleuchtet sowie transgenerationale Geschichten offenbart. Hier möchten wir VR als Medium der Empathie nutzen, um die Motive und Herausforderungen dieser Menschen greifbar zu machen und eine tiefere Verbindung zur Geschichte zu schaffen.
Ihr seid BESTFORM treu geblieben, Minh war sogar als Jurorin dabei. Warum ist es Euch wichtig, in Sachsen-Anhalt Spuren zu hinterlassen?
Binh Minh Herbst: Sachsen-Anhalt ist für uns Heimat. Hier leben Freunde und Familie und so viele liebe und engagierte Menschen, die uns am Herzen liegen. Das Land hat uns von Anfang an unterstützt und es gab immer Raum und Gehör für unsere Ideen. Wer kann schon sagen, dass man als Start-Up mit Referentinnen der Ministerien reden kann, um Feedback zu Förderrichtlinien für Kreative zu geben und diese auch noch richtig schnell umgesetzt wurden?
Christin Marczinzik: Bereits im Studium an der Burg Giebichenstein haben wir im Rahmen der Hochschule so viel Pioniergeist und Unterstützung erfahren. Ebenfalls mit der Gründung von A.MUSE, mit kostenlosen Gründerkursen, MentorInnen-Programmen und dem Netzwerk im Rahmen des Designhauses Halle (Saale), was Deutschlandweit qualitativ wirklich einzigartig ist. Hier spüren wir, dass wir wirklich etwas bewegen können und auch etwas zurückgeben wollen. Es ist uns wichtig zu zeigen, dass kreative Arbeit nicht nur in den großen Städten wie Berlin, Hamburg oder München stattfinden muss. Gerade hier in Sachsen-Anhalt gibt es so viel Potenzial und Raum für Innovation. Wir möchten als Vorbilder vorangehen und zeigen, dass man auch in kleineren Städten Großes schaffen kann.
Binh Minh Herbst: Nach unserer eigenen Nominierung Teil der BESTFORM-Jury zu sein, war ein besonderer Moment. Es ist großartig, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die Kreativität in der Region sichtbar macht und fördert.
Wohin soll die Reise für euer Unternehmen noch gehen?
Christin Marczinzik: Wir wünschen uns, dass in Deutschland – und besonders in Sachsen-Anhalt – noch mehr Offenheit für die Kombination von Kunst, Design, Technologie und gesellschaftlichem Mehrwert entsteht. Unser Ziel ist es, von hier aus weiterhin international wirken zu können und Projekte zu schaffen, die sowohl ästhetisch ansprechend als auch gesellschaftlich relevant sind.
Binh Minh Herbst: Für Songs of Cultures möchten wir ein nachhaltiges Geschäftsmodell im Bereich Social Entrepreneurship entwickeln, sodass wir weiterhin langfristig Projekte realisieren können, die nicht nur schön sind und der Gesellschaft Gutes tun, sondern auch wirtschaftlich tragfähig sind. Mit unserer Arbeit wollen wir weiterhin dazu beitragen, positive Veränderungen zu schaffen und Menschen zu begeistern und glücklich zu machen – ganz nach unserem Credo: „Design for Happiness“.
